Damals, als ich die Literatur frisch für mich entdeckt hatte, meine Tage in der Wiener Hauptbücherei verbrachte und Klassiker verschlang, klebten Dutzende Zettelchen an der Wand meines Klos. Wann immer ich auf einen Satz stieß, der mir mehr zu enthalten schien, als sich so auf die Schnelle greifen ließ, schrieb ich ihn heraus, in Blockschrift auf linierte Schnipsel, und klebte ihn mit zwei Tixostreifen aufs Klo. Es war ein kleiner Sternenhimmel.
Das Verrückte ist, obwohl mir diese Zitate jahrelang von überragender Bedeutung erschienen, erinnere ich mich heute an kaum was davon. Nur eines weiß ich noch zweifelsfrei: „Durch Leiden wird das Glück erkauft“. Dostojewski. Aus welchem Buch? Den Gebrüdern Karamasov? Ich könnte rasch googeln, meine Gedächtnislücke durch eine präzise Angabe ersetzen. Aber wozu? Weder in meiner Literatur noch im Blog habe ich vor, ein allwissendes Idealbild aufzubauen. Wenn ich etwas nicht weiß, sage ich es. Nichts weiter dabei.
Jedenfalls, Dostojewski, durch Leiden wird das Glück erkauft. In Sachen Leiden kann man Dostojewski die Expertise schwerlich absprechen. Damals stimmte ich uneingeschränkt zu. Zum Zeitpunkt, als ich über dieses Zitat stolperte, hatte ich die schlimmsten Jahre meines Lebens hinter mir. Und als ich wieder festen Boden unter die Füße bekam, fühlte ich eine Ekstase in mir aufkommen, eine Freude am Leben, eine Begeisterung für alles.
Heute teile ich diese Gewissheit nicht mehr. Diesem Zitat zufolge müsste jeder Mensch, der aus dem Gefängnis entlassen wird, ein Rumpelstilzchen tänzelnder Freude sein. Ein Autounfall, eine kaputte Beziehung, ein Todesfall – Trampoline ins Glück? Aber wenn dieses Zitat zweifelhaft ist, warum es dann überhaupt hier ausrollen? Und wie hängt es mit dem Sprung ins Eiswasser zusammen? Habe ich Dostojewski am Bart in einen Blog-Eintrag reingezerrt, in dem er eigentlich nichts zu suchen hat?
Nein, ich habe das Gefühl, dass an diesem Zitat was dran ist. Was, wenn wir es geringfügig abwandeln und behaupten, dass Kontraste im Leben eine bedeutsame Rolle spielen? Das schlägt den Sinngehalt nicht in Stücke. Verleiht ihm aber größere Flexibilität. Für mich jedenfalls waren Kontraste immer eine große Sache. Sind es noch. Eine Partynacht in von Regelmäßigkeit geprägten Wochen kann Wunder bewirken. Oder eine Stunde Badewanne in Phasen von Chaos. Ein kurzes Loslassen, wenn man sich lange wo angeklammert hat. Ein Moment des Zupackens, wenn man die Dinge lange an sich vorüberziehen hat lassen.
Oder einen Sprung ins Eiswasser, um einem kontemplativen, in-sich-gekehrten Schriftstellertag die Kirsche obendrauf zu setzen.