Donnerstag Abend, 21:07. Die zweite Flasche Bier liegt schon leicht in der Hand. Nach gründlicher Bedenkzeit über die Art der Abendunterhaltung hat sich der Laptop durchgesetzt. Im Rennen war auch Arno Geigers „Das glückliche Geheimnis“. Netflix. Mal wieder Computerspielen. Raphaela Edelbauer hat sich als leidenschaftliche Zockerin geoutet. Ich weiß von Brandon Sanderson, dass er gerne mal einen Controller zur Hand nimmt. Clemens Setz ebenso. Es muss auch eine gewaltige Dunkelziffer an SchriftstellerInnen existieren, die hinter vorgezogenen Jalousien ihre Spielkonsolen anwerfen. Rufschädigend. Zu kindisch.
Ich habe da eine unaufgeregte Perspektive. Computerspiele sind für mich zuallererst Spiele, und jedem Erwachsenen, der nicht verlernt hat, zu spielen, müsste man im Grunde gratulieren. Er hat es geschafft, etwas Wertvolles mit rüber zu nehmen, über die Schwelle, wie ein Ei auf einem Löffel, das vielen zerbricht.
Trotzdem stellen mich zockende Schriftsteller und Schriftstellerinnen vor ein Rätsel. Die Vereinbarkeit dieser Leidenschaften. Mein letzter Anlauf war Elden Ring, ziemlich genau vor einem Jahr. Das Experiment ist folgendermaßen verlaufen: Am ersten Tag eine halbe Stunde kindlichen Vergnügens. Am zweiten Tag eine Stunde Tiefersinken in die Spielwelt. Am dritten Tag zwei Stunden zielgerichtetes Vorwärtskommen. Nach anderthalb Wochen lag ich nachts wach und vor meinem inneren Auge rasselten Zauber und Waffen wie Kirschen und Sterne bei einem einarmigen Banditen. Bei mir werden Leidenschaften immer virulent. Sie begnügen sich nicht mit Koexistenz. Sie fressen sich gegenseitig.
Ich habe mir selbst das Versprechen abgenommen, diesen Blog-Eintrag weder zu löschen noch wesentlich umzuarbeiten. Einfach die Finger klappern lassen und sehen, was dabei herauskommt. Vielleicht wird er lächerlich. Gut. Lächerlichkeit hat noch niemanden umgebracht.
Ich denke an meine Streifzüge durch Youtube, Facebook und so weiter. Überall das Streben nach Idealbildern. Selbst die Klagen, Bestürzungen, angeblich spontanen Reaktionen wirken glatt und wohlgeschliffen. Dies hier ist gewissermaßen ein Gegenexperiment. Wie viel Holpern hier auch drin ist, ich bin entschlossen, es stehen zu lassen. Es ist meine ehrliche Überzeugung, dass das Chaos nötig ist. Wir brauchen die Verwirrung. Die Widersprüche. Diesen ganzen Unterwasser-Teil des Eisbergs, da unten in der Magengrube.
Ich für meinen Teil finde mich positiv überrascht, wenn ich bei Netflix von einem Serienkracher wie Westworld auf eine Doku schalte, wo der Fokus auf Menschen in Druckkochtöpfen jedweder Art liegt, wie Last Chance U. Im einen Moment hört man wohlgeschliffene Dialoge. Ein Drücken auf die Fernbedienung. Und plötzlich sind da Jugendliche, die das Kinn recken oder verzweifeln, die mit dem Leben ringen, die charismatisch sind, verwirrt und verwirrend. Und ein anderer Duft steigt daraus hervor. Es ist nicht der ebenmäßige Klangtunnel, aus dem die präzise Kugel eines wohlkalkulierten Satzes schießt. Es ist der chaotische Resonanzraum einer echten, aus Erfahrung gebildeten Persönlichkeit.
Wenn ich gefragt werde, warum ich ausschließlich aus meinem Erfahrungsschatz schöpfe, fast zwanghaft über Menschen und Dinge schreibe, die ich selbst erlebt, mit eigenen Augen gesehen habe, dann ist es, weil ich keine geraden Flugbahnen will, und seien sie noch so treffsicher. Ich will Resonanzräume. Ich will Musik.
Auch mein Blog fällt in diese Kategorie. Wer hier Eislaufen will, wird sich blaue Flecken holen. Es gibt Unebenheiten. Löcher. Bruchstellen. Er ist nicht perfekt und soll es auch nicht sein. Ich will keine Perfektion. Er soll lebendig sein. Befruchtend. Von dumpfer, unauslöschlicher Wärme erfüllt wie ein Komposthaufen.
Zeit für ein drittes Bier. Die Welt entrollt sich wie ein Büffet unendlicher Möglichkeiten. Ich stehe kurz davor, meine Disziplin über Bord zu werfen und die Süßigkeiten-Box holen. Ich stehe haarscharf davor, die Flasche Austrian Empire Navy Rum aus dem Keller zu holen. Ich stehe auch haarscharf davor, eine Orangenscheibe ins Bier zu werfen und Zimt reinzustreuen, bloß um herauszufinden, wie es schmeckt. Ich stehe haarscharf vor allem. Das ist das Schöne daran, ein bisschen betrunken zu sein. Man ist mit der Welt auf Tuchfühlung. Flüsternähe.
Das nur am Rande. Es ist nun 21:29. Einer der Hunde hat sich auf den Rücken gerollt und schnorchelt. Ich bekomme Lust auf Stimmen im Hintergrund. Also werfe ich Netflix an. Unter den Top-Vorschlägen findet sich eine Doku mit dem Titel: Hip-Hop Evolution. Nicht meine Musik, aber was solls? Gelächter und lässige Stimmen setzen ein. Beats hämmern. Wir sind die Hot Boys, ein Feuer, das man nicht löschen kann. Ruf jedes Feuerwehrauto in den Vereinigten Staaten, sie sollen uns nass machen, aber wir brennen.
Warum gottverdammt nochmal nicht?
Es ist angenehm, zu schreiben. Mühelos. Ein müheloses Vergnügen. Satz für Satz. Tipp, tipp. Die Leichtigkeit fühlt sich ungewohnt an.
Die längste Zeit war Schreiben für mich mit unsäglicher Mühe verbunden. Ich habe mir die Eier abgeschliffen, um in die Riege der Großen aufzusteigen. Von früh bis spät hatte ich nur einen Gedanken im Kopf: einer von ihnen zu sein. Ich las ihre Bücher, Briefe und Biografien, studierte ihre Richtungsangaben, entzifferte ihre Codes, folgte ihren Fußspuren. Aber selbst als ich ein halbes Dutzend Bücher veröffentlicht hatte und mich mit Fug und Recht Schriftsteller nennen konnte, fühlte ich mich ihnen nicht nähergekommen. Es brauchte lange, bis ich begriff, dass sie alle, jeder für sich, in einem einzigartigen Geflecht und Zeit und Umständen existiert haben, einer Überschneidung von Achsen, die sich niemals wiederholen wird. Ich habe fünfzehn Jahre für diese Erkenntnis gebraucht. Woran man sieht, dass ich nicht zu den hellsten gehöre. Jetzt zieht es mich nirgends mehr hin. Ich beginne, auf meine Achsen zu achten. Deren Überschneidungen.
Jeder Song war, als ob er nie aufhören würde. Immer neue und neue Bars.
Ich spüre, wie Hip-Hop Evolution meine Aufmerksamkeit zu binden beginnt. Ohnehin ist dieser Blog-Eintrag schon länger geworden als beabsichtigt. Zeit für Abschiedsworte. Zeit für einen letzten Gruß. Zeit, noch etwas einzupacken und mitzugeben, wie Kuchenstücke am Ende einer Party. Mir fällt die Abschiedsfloskel ein, die eine führende Persönlichkeit eines österreichischen Literaturhauses in Verwendung hat. Seit dem Mailverkehr, den ich mit ihr geführt habe, ringe ich mit periodischen Anwandlungen, die Floskel zu klauen. Aber heute leihe ich sie. Sie wird es mir verzeihen. Also Leute: stay cool and sane.